Es war ein grauer, kalter Samstagmorgen. Die kahlen Bäume zitterten im Oktoberwind. Anna war gekommen, um ihren Bruder zu besuchen, der viel zu jung bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Seit fünf Jahren kam sie jeden Monat hierher, ohne Ausnahme.
Als er weiße Chrysanthemen auf den Grabstein legte, sah er ein kleines Mädchen in der Nähe regungslos stehen. Sie trug ein schwarzes Kleid und hielt einen kleinen Teddybären in den Händen. Sie wirkte wie erstarrt, ihr Blick war auf ein Grab gerichtet, dessen Name kaum lesbar war.
Anna näherte sich vorsichtig.
– „Hallo … bist du mit jemandem gekommen?“, fragte sie leise.
Das kleine Mädchen schüttelte wortlos den Kopf.
– „Du weißt, dass es nicht sehr sicher ist, alleine hierher zu kommen. Wissen deine Eltern, dass du hier bist?“
Stille… Wer ist es?
Nach einer Weile flüsterte das kleine Mädchen:
„Ich bin’s, Papa … Heute ist es ein Jahr her. Mama konnte nicht kommen, sie arbeitet. Sie sagte, ich könnte mich allein von ihm verabschieden …“
Anna spürte einen Schauer über den Rücken laufen. Sie kniete nieder und betrachtete das Grab. Ein junger Mann, gestorben mit 32 Jahren. Sie legte dem kleinen Mädchen eine Hand auf die Schulter.
– „Möchtest du, dass ich noch ein bisschen bei dir bleibe?“
Das kleine Mädchen nickte schüchtern.
Sie standen Seite an Seite in der Stille der Erinnerung. Als das kleine Mädchen aufstand, um zu gehen, wandte sie sich an Anna und sagte:
– „Kannst du das nächste Mal mitkommen? Mein Vater mochte es, wenn die Leute lächelten.“
Anna antwortete mit einem süßen Lächeln:
– „Ich verspreche es.“
Anna sah dem kleinen Mädchen nach, wie es zwischen den Gräbern davonging. Ihre zerbrechliche Gestalt verschmolz mit den verblassten Farben des Herbstes.
Sie stand einen Moment regungslos da, ihr Herz schwer von unerwarteter Zärtlichkeit.
Dieser kindliche, ernste Blick hatte sie mehr berührt, als sie gedacht hatte.
Er versprach sich, dass er zurückkehren würde, nicht nur für seinen Bruder, sondern auch für diese stille kleine Seele.
Den ganzen Tag lang war ihr Élines Gesicht wie eine süße, traurige Melodie nicht aus dem Kopf gegangen.
Am darauffolgenden Samstag brachte er zwei Blumensträuße mit: einen für seinen Bruder und einen für Élines Vater.
Auch dieses Mal war das kleine Mädchen da, als hätte sie auf ihn gewartet.
Sie redeten nicht viel, aber ihr Schweigen passte wunderbar zusammen.
Anna holte eine kleine Thermoskanne mit heißer Schokolade und zwei Gläser heraus.
Als Éline lächelte und einen Schluck nahm, verstand Anna, dass das Versprechen eine tiefere Bedeutung hatte, als sie sich vorgestellt hatte.